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Akzeleration und Retardation im Nachwuchsfußball

Der professionelle Fußball legt großen Wert auf die Talententwicklung und das Scouting junger Spieler. Daher ist es essenziell, die physischen und kognitiven Entwicklungsunterschiede bei Jugendlichen zu verstehen, um deren Einfluss auf die Talenterkennung fundiert einschätzen zu können. Die Begriffe Akzeleration und Retardation bieten eine wissenschaftliche Grundlage, um diese Entwicklungsunterschiede zu beschreiben.


Akzeleration und Retardation: Ein wissenschaftlicher Ansatz

Akzeleration beschreibt einen Prozess, bei dem die biologische Entwicklung eines Individuums schneller verläuft als der Durchschnitt. Dies kann zu signifikanten Vorteilen in den Bereichen der physischen und kognitiven Fähigkeiten im Vergleich zu Gleichaltrigen führen (Malina et al., 2004).
Retardation dagegen bezieht sich auf eine langsamere biologische Entwicklung, die zu vorübergehenden Nachteilen in der physischen und kognitiven Leistungsfähigkeit führen kann (Malina et al., 2004).

Physische und kognitive Entwicklungsunterschiede

  • Physische Akzeleration und Retardation: Spieler, die physisch akzeleriert sind, zeichnen sich durch ein schnelleres Wachstum in Bezug auf Größe und Muskelkraft aus. Dies verschafft ihnen oft einen Vorteil gegenüber Gleichaltrigen. Im Gegensatz dazu entwickeln sich retardierte Spieler langsamer in diesen Bereichen, was zu einer geringeren physischen Präsenz führen kann.
  • Kognitive Akzeleration und Retardation: Diese Konzepte erstrecken sich auch auf kognitive Fähigkeiten, wie Spielverständnis und Entscheidungsfindung. Akzelerierte Spieler können strategische Entscheidungen schneller treffen, während retardierte Spieler möglicherweise länger brauchen, um diese Fähigkeiten zu entwickeln.

Beispiel: Akzeleration und Retardation im Fußball

In einem Jugendfußballteam gibt es zwei Spieler: Luca und Antonio.

Luca, 13 Jahre alt, hat bereits eine auffällige Muskelentwicklung und ist größer als die meisten seiner Teamkollegen. Auf dem Spielfeld wirkt er wie ein älterer Jugendlicher, da er schneller läuft, den Ball härter schießt und eine ausgeprägte körperliche Präsenz hat. Dieses Beispiel für Akzeleration verdeutlicht, dass Lucas biologische Entwicklung schneller als der Durchschnitt seiner Altersgruppe verläuft. Diese physische Akzeleration könnte mit einer kognitiven Akzeleration einhergehen, was bedeutet, dass er möglicherweise taktische Spielzüge schneller erfasst und bessere Entscheidungen trifft.

Antonio, ebenfalls 13 Jahre alt, ist hingegen kleiner und hat weniger Muskelmasse als Luca. Seine geringere physische Präsenz führt dazu, dass er auf dem Spielfeld weniger dominant wirkt. Dieses Beispiel für Retardation zeigt, dass sich Antonios biologische Entwicklung langsamer vollzieht. Dennoch bedeutet dies nicht, dass Antonio weniger talentiert ist oder ein geringeres Potenzial besitzt. Er befindet sich einfach in einem anderen Stadium seiner Entwicklung.

Wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Relevanz im FußballEs ist bekannt, dass Kinder und Jugendliche unterschiedliche biologische Reifungstempi haben. Diese Unterschiede können im sportlichen Kontext von großer Bedeutung sein, insbesondere in einem wettbewerbsorientierten Umfeld wie dem Fußball. Studien haben gezeigt, dass es
signifikante Entwicklungsunterschiede innerhalb einer Altersgruppe geben kann. Cumming et al. (2017) stellten fest, dass die Differenz in der biologischen Reife zwischen dem am weitesten fortgeschrittenen und dem am wenigsten entwickelten Kind im gleichen Alter bis zu fünf Jahre betragen kann. Diese Diskrepanz kann zu erheblichen Unterschieden in der physischen Leistung führen, was insbesondere im Fußball, wo Größe und Stärke oft Vorteile verschaffen, von Bedeutung ist.

Auswirkungen auf die Talententwicklung im Fußball

Talentauswahl: In vielen Fußballakademien werden akzelerierte Spieler oft aufgrund ihrer physischen Reife bevorzugt. Dies kann jedoch zu einer Verzerrung in der Talentsichtung führen. Physisch dominante Spieler, die aufgrund ihrer biologischen Reife bereits herausragende Leistungen zeigen, könnten langfristig weniger Entwicklungspotenzial haben als retardierte Spieler, die sich noch in einem früheren Entwicklungsstadium befinden.
Psychologische Auswirkungen: Spieler, die physisch akzeleriert sind, können ein übersteigertes Selbstvertrauen entwickeln, während retardierte Spieler möglicherweise ein geringes Selbstwertgefühl haben, da sie im Vergleich zu ihren fortgeschrittenen Altersgenossen weniger erfolgreich erscheinen.
Spielleistung und Entwicklung: Während akzelerierte Spieler in jungen Jahren oft dominieren, kann dieser Vorteil mit zunehmendem Alter verschwinden, wenn die retardierten Spieler ihre physische Reife erreichen und die Entwicklungsunterschiede ausgleichen.
Empfehlungen für Trainer und Scouts

  • Vielfältige Talentauswahl: Trainer und Scouts sollten nicht nur auf physische Merkmale achten, sondern auch technische Fähigkeiten, Spielintelligenz und mentale Stärke in den Vordergrund stellen.
  • Mirwald-Methode: Diese Methode zur Bestimmung des biologischen Alters kann helfen, die Entwicklungsstadien von Spielern besser zu verstehen und gezielt zu fördern.
  • Bio-Banding: Durch die Einteilung der Spieler nach ihrem biologischen statt nach dem chronologischen Alter können Entwicklungsvorteile und -nachteile ausgeglichen werden, was eine gerechtere Talententwicklung ermöglicht


Langfristige Perspektive
Das Verständnis der Konzepte von Akzeleration und Retardation ist entscheidend, um eine faire und effektive Talentförderung im Fußball zu gewährleisten. Trainer und Scouts sollten die langfristige Entwicklung eines Spielers berücksichtigen und nicht nur auf temporäre Vorteile durch physische Reife setzen.

Quellen
Cumming, S. P., Lloyd, R. S., Oliver, J. L., Eisenmann, J. C., & Malina, R. M. (2017). Bio-banding in sport: Applications to competition, talent identification, and strength and conditioning of youth athletes. Strength & Conditioning Journal, 39(2), 34-47. https://doi.org/10.1519/SSC.0000000000000281
Malina, R. M., Bouchard, C., & Bar-Or, O. (2004). Growth, maturation, and physical activity (2nd ed.). Champaign, IL: Human Kinetics.

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